Scroll down for English version
Denkt man an Ingar Krauss‘ bereits mehrfach ausgezeichnete analoge Schwarz- weiß Fotografien, denkt man vor allem an seine melancholischen, sozialdokumentarischen Portraits von Kindern, Jugendlichen oder osteuropäischen Wanderarbeitern – eindringlich und zeitlos. Umso mehr überrascht seine jüngste Serie mit dem Titel „Mailand – Licht im Winter“, für die der Künstler Anfang des Jahres von dem italienischen Designer Marco Zanini für die Herbstkampagne des Unternehmens Santoni nach Mailand eingeladen wurde.
Wie auch in seinen vorherigen Porträts suchte und fand Krauss seine Protagonisten zuvor selbst auf der Straße und fotografierte diese in einem vor Jahrzehnten verlassenen Haus etwas außerhalb der Stadt. Die Aufnahmen wollte Krauss ursprünglich mit Fotos des Mailänder Umlandes kombinieren, doch die Wintertage waren zu kurz und so blieb nur die zweite, dunkle Tageshälfte dafür übrig. Neben den Porträtfotografien, die er wie gewohnt bei Tageslicht aufnahm, entstanden so zum ersten Mal auch Nachtaufnahmen.
Die Außenbilder zeigen von Straßenlaternen angeleuchtete Häuser, Fassaden, Zäune, bewachsene Mauern, Bäume und Sträucher. Es sind Bilder, die der Künstler auf seinen nächtlichen Streifzügen durch die Stadt aufgenommen hat. Sie wirken auf den ersten Blick wie alltägliche Ansichten gewöhnlicher Gebäude. Sie deuten auch nicht unbedingt auf die Stadt Mailand hin, die sich wahrlich durch andere Bauten auszeichnet. Das Alltägliche wird jedoch von etwas Magischem durchdrungen, einer Atmosphäre und einem Gefühl, das manch einer kennt, der nachts allein in einer fremden Stadt unterwegs ist. Hier folgt der Künstler einer neorealistischen Tradition: nicht nur die Darsteller der Porträts sind „alltägliche“ Menschen, sondern auch die Orte. Wie der italienische Theoretiker Cesare Zavattini erklärt, geht es im Neorealismus darum, „die Dinge, wie sie sind, fast allein sprechen zu lassen und sie so bedeutsam wie möglich werden zu lassen“. In der Folge gibt es nichts Banales, denn in jedem Augenblick stecke ein „unerschöpfliches Bergwerk der Wirklichkeit“.
Im Gegensatz zu Personen, Kleidung und Gegenständen, die bewegt, arrangiert und inszeniert werden können, wie etwa in Porträts oder Stillleben, kann man dies mit Gebäuden erfahrungsgemäß nicht. So schafft es der Künstler hier aufwundervolle Art und Weise, dem Stadtbild Ausschnitte zu entnehmen, die das Dargestellte aus seinen konkreten Zeitbezügen löst; bei denen es nicht um Mailand als konkreten Ort geht – so wie es in den Porträts auch nicht vorrangig um Mode geht – sondern um das Mysterium der Nacht an sich.
Der gebürtige Ost-Berliner Ingar Krauss (*1965) lebt und arbeitet in Berlin und Zechin. Nach verschiedenen Tätigkeiten wie dem Bühnenhandwerk oder als Betreuer in einem psychiatrischen Wohnheim gelangte er Mitte der 1990er Jahre autodidaktisch zur Fotografie. Seine Werke sind bis heute in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert worden, u.a. im Goethe-Institut Paris, dem Velan Center Turin, im Palazzo Vecchio in Florenz, in der Kunsthalle Erfurt, im ICP New York und der Guardini Stiftung Berlin. Dies ist die fünfte Einzelausstellung der Galerie mit dem Künstler.
Text: Carolin Leistenschneider
Für weitere Informationen und Bildmaterial wenden Sie sich bitte an: Kirsten Landwehr, mail@galeriefuermodernefotografie.com
Denkt man an Ingar Krauss‘ bereits mehrfach ausgezeichnete analoge Schwarz- weiß Fotografien, denkt man vor allem an seine melancholischen, sozialdokumentarischen Portraits von Kindern, Jugendlichen oder osteuropäischen Wanderarbeitern – eindringlich und zeitlos. Umso mehr überrascht seine jüngste Serie mit dem Titel „Mailand – Licht im Winter“, für die der Künstler Anfang des Jahres von dem italienischen Designer Marco Zanini für die Herbstkampagne des Unternehmens Santoni nach Mailand eingeladen wurde.
Wie auch in seinen vorherigen Porträts suchte und fand Krauss seine Protagonisten zuvor selbst auf der Straße und fotografierte diese in einem vor Jahrzehnten verlassenen Haus etwas außerhalb der Stadt. Die Aufnahmen wollte Krauss ursprünglich mit Fotos des Mailänder Umlandes kombinieren, doch die Wintertage waren zu kurz und so blieb nur die zweite, dunkle Tageshälfte dafür übrig. Neben den Porträtfotografien, die er wie gewohnt bei Tageslicht aufnahm, entstanden so zum ersten Mal auch Nachtaufnahmen.
Die Außenbilder zeigen von Straßenlaternen angeleuchtete Häuser, Fassaden, Zäune, bewachsene Mauern, Bäume und Sträucher. Es sind Bilder, die der Künstler auf seinen nächtlichen Streifzügen durch die Stadt aufgenommen hat. Sie wirken auf den ersten Blick wie alltägliche Ansichten gewöhnlicher Gebäude. Sie deuten auch nicht unbedingt auf die Stadt Mailand hin, die sich wahrlich durch andere Bauten auszeichnet. Das Alltägliche wird jedoch von etwas Magischem durchdrungen, einer Atmosphäre und einem Gefühl, das manch einer kennt, der nachts allein in einer fremden Stadt unterwegs ist. Hier folgt der Künstler einer neorealistischen Tradition: nicht nur die Darsteller der Porträts sind „alltägliche“ Menschen, sondern auch die Orte. Wie der italienische Theoretiker Cesare Zavattini erklärt, geht es im Neorealismus darum, „die Dinge, wie sie sind, fast allein sprechen zu lassen und sie so bedeutsam wie möglich werden zu lassen“. In der Folge gibt es nichts Banales, denn in jedem Augenblick stecke ein „unerschöpfliches Bergwerk der Wirklichkeit“.
Im Gegensatz zu Personen, Kleidung und Gegenständen, die bewegt, arrangiert und inszeniert werden können, wie etwa in Porträts oder Stillleben, kann man dies mit Gebäuden erfahrungsgemäß nicht. So schafft es der Künstler hier aufwundervolle Art und Weise, dem Stadtbild Ausschnitte zu entnehmen, die das Dargestellte aus seinen konkreten Zeitbezügen löst; bei denen es nicht um Mailand als konkreten Ort geht – so wie es in den Porträts auch nicht vorrangig um Mode geht – sondern um das Mysterium der Nacht an sich.
Der gebürtige Ost-Berliner Ingar Krauss (*1965) lebt und arbeitet in Berlin und Zechin. Nach verschiedenen Tätigkeiten wie dem Bühnenhandwerk oder als Betreuer in einem psychiatrischen Wohnheim gelangte er Mitte der 1990er Jahre autodidaktisch zur Fotografie. Seine Werke sind bis heute in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert worden, u.a. im Goethe-Institut Paris, dem Velan Center Turin, im Palazzo Vecchio in Florenz, in der Kunsthalle Erfurt, im ICP New York und der Guardini Stiftung Berlin. Dies ist die fünfte Einzelausstellung der Galerie mit dem Künstler.
Text: Carolin Leistenschneider
Für weitere Informationen und Bildmaterial wenden Sie sich bitte an: Kirsten Landwehr, mail@galeriefuermodernefotografie.com
English version
When thinking of Ingar Krauss’s award-winning, analog black and white photographs, his melancholic, social documentary portraits of children, teens, or Eastern European migrant workers come to mind—vividly and timelessly. All the more unexpected is his latest series entitled „Mailand – Licht im Winter“ (Milan – Light in Winter), for which the artist was invited to Milan earlier this year by Italian designer Marco Zanini in order to produce Santoni’s fall company campaign.
As with his previous portraits, Krauss searched for and found his protagonists on the street. He then photographed them inside a house abandoned decades ago, just outside the city. Originally, Krauss wanted to combine these images with photos of Milan’s surrounding areas but the winter days were too short and thus only the dark, second half of the day remained. In addition to the portrait photographs, which he took in daylight as usual, night shots were also created for the first time.
The outdoor photographs depict houses, facades, fences, overgrown walls, trees, and shrubs, illuminated by street lamps. They are images taken by the artist on his nightly rambles through the city. At first glance they seem like typical views of ordinary buildings. They also do not necessarily suggest the city of Milan, which is in truth characterized by other buildings. But permeating these quotidian views is a magical quality, an atmosphere and feeling familiar to many who have wandered alone through a strange city at night. Here the artist is following a neorealist tradition: not only are those portrayed in the images “everyday” people, but the locations are as well. As Italian theorist Cesare Zavattini explains, neorealism is about “allowing things as they are to speak for themselves and to be as meaningful as possible.” As a result, nothing is banal because hidden in every instant is an “inexhaustible mine of reality.”
In contrast to people, clothes, and objects that can be moved, arranged, and staged—as with portraits or still lifes—the same cannot be achieved with buildings as experience shows. Here the artist succeeds wonderfully in gleaning details from the city, unmooring what is portrayed from their concrete temporal references; it’s not about Milan as a tangible location— in the same way the portraits are not about photography—but about the mystery of the night itself.
Born in East Berlin, Ingar Krauss (b. 1965) lives and works in Berlin and Zechin. After various activities including working as a stagehand and a caretaker in a home for psychiatric patients, he discovered and taught himself photography in the mid- 1990s. His works have been presented in numerous solo and group exhibitions, including the Goethe-Institut Paris, the Velan Center Turin, Palazzo Vecchio in Florence, Kunsthalle Erfurt, ICP New York and the Guardini Foundation Berlin. This is the artist’s fifth solo exhibition at the gallery.
Text: Carolin Leistenschneider
When thinking of Ingar Krauss’s award-winning, analog black and white photographs, his melancholic, social documentary portraits of children, teens, or Eastern European migrant workers come to mind—vividly and timelessly. All the more unexpected is his latest series entitled „Mailand – Licht im Winter“ (Milan – Light in Winter), for which the artist was invited to Milan earlier this year by Italian designer Marco Zanini in order to produce Santoni’s fall company campaign.
As with his previous portraits, Krauss searched for and found his protagonists on the street. He then photographed them inside a house abandoned decades ago, just outside the city. Originally, Krauss wanted to combine these images with photos of Milan’s surrounding areas but the winter days were too short and thus only the dark, second half of the day remained. In addition to the portrait photographs, which he took in daylight as usual, night shots were also created for the first time.
The outdoor photographs depict houses, facades, fences, overgrown walls, trees, and shrubs, illuminated by street lamps. They are images taken by the artist on his nightly rambles through the city. At first glance they seem like typical views of ordinary buildings. They also do not necessarily suggest the city of Milan, which is in truth characterized by other buildings. But permeating these quotidian views is a magical quality, an atmosphere and feeling familiar to many who have wandered alone through a strange city at night. Here the artist is following a neorealist tradition: not only are those portrayed in the images “everyday” people, but the locations are as well. As Italian theorist Cesare Zavattini explains, neorealism is about “allowing things as they are to speak for themselves and to be as meaningful as possible.” As a result, nothing is banal because hidden in every instant is an “inexhaustible mine of reality.”
In contrast to people, clothes, and objects that can be moved, arranged, and staged—as with portraits or still lifes—the same cannot be achieved with buildings as experience shows. Here the artist succeeds wonderfully in gleaning details from the city, unmooring what is portrayed from their concrete temporal references; it’s not about Milan as a tangible location— in the same way the portraits are not about photography—but about the mystery of the night itself.
Born in East Berlin, Ingar Krauss (b. 1965) lives and works in Berlin and Zechin. After various activities including working as a stagehand and a caretaker in a home for psychiatric patients, he discovered and taught himself photography in the mid- 1990s. His works have been presented in numerous solo and group exhibitions, including the Goethe-Institut Paris, the Velan Center Turin, Palazzo Vecchio in Florence, Kunsthalle Erfurt, ICP New York and the Guardini Foundation Berlin. This is the artist’s fifth solo exhibition at the gallery.
Text: Carolin Leistenschneider